Erste Ergebnisse der SENSOR-Studie

In der SENSOR-Studie wurde die emotional-soziale Situation von Grundschulkindern im Frühjahr 2022 erfasst. Befragt wurden hierzu n=1242 Grundschulkinder (Klasse 3-4), n=1155 Elternteile und n=148 Grundschullehrkräfte eines Schulamtsbezirks der Stadt Köln (SAB3). Ziel war Ist-Standserhebung der aktuellen Situation und – darauf aufbauend – die Vorbereitung von praxisnahen Unterstützungsangeboten. Eingesetzt wurden ausschließlich wissenschaftlich fundierte Verfahren.

Zukunftsängste (Kindersicht)

Die coronabezogenen Zukunftsängste aller Kinder lagen mit einem Mittelwert von 5,2 (Skalenbreite von 0 bis 12) ungefähr in dem Bereich von vergleichbaren Studien aus dem Herbst 2020. Das bedeutet, dass die Covid19-Pandemie für die Kölner Kinder bis zum Erhebungszeitpunkt (April 2022) nach wie vor ein bestimmendes Thema war. 31% der Kinder befürchten, dass die Pandemie ihr zukünftiges Leben sowie ihre (beruflichen) Zukunftsperspektiven stark beeinträchtigen wird. Auf vergleichbarem Niveau lagen die kriegsbezogenen Zukunftsängste der Kinder, die kurzfristig in die Kinderbefragung aufgenommen wurden.

Belastungserleben (Eltern und Kinder)

Die SENSOR-Studie wurde zu weiten Teilen parallel zur COPSY-Studie angelegt, die seit Beginn der Coronapandemie in bislang drei Wellen durchgeführt wurde. Dadurch sind vergleichende Aussagen für die Situation in den befragten Kölner Schulen möglich (Abbildung 1). Zum Höhepunkt der coronabedingten Einschränkungen im Dezember 2020 fühlten sich 82,9% der Kinder (83,4% der Eltern) von den Auswirkungen der Pandemie belastet oder stark belastet.

Abbildung 1. Entwicklung der coronabezogenen Belastung im Pandemieverlauf

In der SENSOR-Studie blieb die erwartete starke Entspannung des Belastungserlebens aus. Zum Befragungszeitpunkt im April 2022 fühlten sich noch rund 89% der Eltern und 74% der Kinder durch die Pandemie belastet oder stark belastet.  

Psychische Auffälligkeiten (Elternsicht)

Grundlage der Bewertung psychischer Auffälligkeiten in der COPSY-Studie sind Elterneinschätzungen. Für die einbezogenen Kölner Schulen wurden die Elterneinschätzungen parallel zur COPSY-Studie erhoben. Dabei wurden Verzerrungen, die sich beispielsweise durch sozioökonomische Unterschiede ergeben könnten, statistisch kontrolliert. Während der Anteil der Kinder mit psychosozialen Auffälligkeiten im Herbst 2018 (vor der Coronapandemie) noch bei 17% lagen, zeigte sich im Zuge der Coronapandemie ein stetiger Anstieg der emotional-sozialen Auffälligkeiten. Zum Höhepunkt der Coronapandemie lag der Anteil der Kinder mit psychischen Auffälligkeiten bei rund 31%. Simulieren wir das Vorgehen der COPSY-Studie, ergab sich für die einbezogenen Grundschulen im Frühjahr 2022 ein Anteil von 45% der Kinder mit einem auffälligen Wert. Bei zurückhaltender Interpretation der Befunde bedeutet dies, dass sich die Situation an den einbezogenen Grundschulen zumindest nicht entspannt hat.

Welche Verhaltensbereiche waren auffällig (Kindersicht)?

Insgesamt waren die Werte für depressive und angstbezogene Symptome an den Kölner Schulen moderat und die Werte für Aggressivität stark erhöht. So nahmen 19,3% der Kinder bei sich verstärkte Angstsymptome wahr, 17,8% nahmen depressive Verstimmungen wahr (Erwartungswert jeweils 16%). Besonders auffällig war der Anteil der Kinder, die in erhöhtem Maße bei sich selbst aggressives Verhalten wahrnahmen. Hier war der Anteil der Kinder, die sich selbst als auffällig einschätzten, mit 47,3 Prozent rund um das Dreifache gegenüber dem Erwartungswert erhöht. Der Bereich der Hyperaktivität war aus Kindersicht nicht erhöht, allerdings nahmen Eltern bei Ihren Kindern im häuslichen Umfeld häufiger Symptome motorischer Unruhe war, als in dieser Altersgruppe normalerweise zu erwarten gewesen wäre.

Fokus Aggressives Verhalten

In der SENSOR-Studie wurde auch der Entwicklungsstand der sozial-kognitiven Informationsverarbeitung (SKI) der Kölner Kinder untersucht. Unter der SKI versteht man einen kognitiven Prozess, der von der Wahrnehmung einer sozialen Situation (z.B. ein Missverständnis beim Spiel auf dem Pausenhof, ein Konflikt bei einer Gruppenarbeit im Unterricht) bis hin zu einer (sozialen) Reaktion über mehrere Schritte verläuft. Eine differenziertere Ergebnisse der Befunde konnten zeigen, dass die Kompetenzen der Kinder in allen Bereichen der SKI gegenüber dem zu erwartenden Entwicklungsstand signifikant zurücklagen. Die Probleme reichten dabei von der angemessenen Wahrnehmung von sozialen Situationen (z.B. Leon hat mich mit dem Ball absichtlich treffen wollen) und der altersangemessenen Kontrolle von Impulsen (z.B. abwarten, bis ich an der Reihe bin) bis hin zu stark reduzierten sozialen Verhaltensfertigkeiten (z.B. im Konflikt die richtigen Worte finde, nonverbale Kommunikation, Wissen wie ich einen Konflikt auch friedlich lösen kann). Ihre Probleme nahmen die Kinder insbesondere in der Interaktion mit Gleichaltrigen wahr, wobei hier auch aggressives Verhalten der Interaktionspartner die eigene aggressive Reaktion jeweils weiter verstärken. Hierdurch wird möglicherweise in vielen Situationen ein Teufelskreis in Gang gesetzt.

Unterschiedliche Problemschwerpunkte in den Klassen

Die Analysen legen nahe, dass die Problemschwerpunkte nicht in allen Klassen gleich sind. So zeigten sich in einigen Klassen erhebliche angstbezogene Probleme, aber keine Auffälligkeiten im aggressiven Verhalten. In anderen Klassen zeigten sich insbesondere Probleme mit aggressivem Verhalten, wiederum andere Klassen hatten auffällige Werte in beiden Bereichen. Somit ist es für eine zielführende Beruhigung der Situation in den Klassen immer wichtig zu wissen, in welchen Bereichen die Probleme tatsächlich liegen.

Belastung der Lehrkräfte

Im Rahmen der SENSOR-Studie wurde das aktuelle Stressempfinden der Lehrkräfte in den teilnehmenden Kölner Schulen mit Hilfe eines standardisierten Verfahrens erhoben. Die Ergebnisse zeigten, dass das Stresserleben der befragten Lehrkräfte deutlich über dem Erwartungswert liegt. Grundlage waren dabei Vergleichswerte aus dem Bildungsbereich. Während normalerweise rund 84% der Lehrkräfte in einem unauffälligen Belastungsbereich liegen, waren es in den befragten Kölner Schulen lediglich 68 %. Rund 32 % der Lehrkräfte zeigten im April 2022 eine überdurchschnittliche kognitive und emotionale Belastung. Davon lagen 10,2 % in einem stark kritischen Bereich. Das bedeutet, dass der Anteil der extrem belasteten Lehrkräfte um das Fünffache gegenüber dem Erwartungswert (ca. 2 %) erhöht ist. In dieser Gruppe sind dringend stressreduzierende Maßnahmen erforderlich, damit diese Lehrkräfte auch weiterhin leistungsfähig bleiben und langfristig dem Schulsystem zur Verfügung stehen.

Über die Schulen schwankte das durchschnittliche Belastungserleben der Lehrkräfte stark. In rund der Hälfte der Schulen war das durchschnittliche Belastungserleben der Lehrkräfte zwar erhöht, lag aber im Durschnitt unterhalb des kritischen Wertes. In der anderen Hälfte war das Belastungserleben im Mittel oberhalb dieses kritischen Grenzwertes und war in einigen Schulen mit Werten von T = 70 und höher sogar besonders auffällig erhöht.  Generell zeigten die Daten, dass während der Corona-Pandemie insbesondere Kooperation (der Lehrkräfte untereinander sowie die Kooperation mit dem Ganztag) die Stressbelastung der Lehrkräfte reduzieren konnte. Auf Schulleitungsebene wurden insbesondere eine transparente und frühzeitige Kommunikation (48,5 %), regelmäßige Zeiten für (Stufen-)Teams (33 %) und ein empathisches, offenes und umsichtiges Schulleitungshandeln (19,4 %) sowie die Entwicklung von pragmatischen und unbürokratischen Lösungen als wichtige Entlastungsfaktoren genannt. In der Pandemiezeit war (im Gegensatz zu anderen Studien außerhalb der Pandemie) auch die Klassenstärke ein relevanter stressreduzierender Faktor. So stieg der Lehrkraftstress in der Pandemiezeit im Durchschnitt an, wenn die Klassengröße über 20 Kinder lag (Abbildung 2).

Abbildung 2. Lehrkraftstress (Prozentrang) während der Coronaphase in Abhängigkeit der Klassenstärke

Interpretation der Befunde durch das Team der Uni Wuppertal

Die Befunde der SENSOR-Studie wurden vom Team der Bergischen Universität Wuppertal auch unter Hinzunahme vieler hier nicht berichteter Daten analysiert. Aus den Ergebnissen lassen sich zunächst fünf zentrale Aussagen treffen.

  1. Corona-bezogene Zukunftsängste sind ein wichtiger Ansatzpunkt: Auch wenn sich gesellschaftlich aktuell wieder ein Gefühl der Normalität ausbreitet, zeigen die Untersuchungsergebnisse, dass die Pandemie für die Kinder (in Köln) noch nicht beendet ist. Auch wenn der Anteil der generellen Ängste nur leicht erhöht ist, zeigen die Ergebnisse, dass sich rund ein Drittel der Kinder erhebliche spezifische Sorgen über ihr zukünftiges Leben macht. Dabei ergab sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen den Zukunftssorgen der Kinder und ihren externalisierenden (Aggressivität, Hyperaktivität, Konzentration) sowie internalisierenden (Angst, Depression) Verhaltensproblemen.

Abbildung 3. Coronabezogene Zukunftsängste und internalisierende (links) und externalisierende (rechts) Verhaltensprobleme

Unsere Lesart dieser Befunde ist, dass die Zukunftssorgen bei einem Großteil der Kinder die externalisierenden und internalisierenden Probleme auslösen bzw. dass Kinder, die bereits mit externalisierenden und internalisierenden Problemen konfrontiert vulnerabler für Zukunftssorgen sind. Je nach Familiensituation werden viele Kinder mit der Bewältigung der Corona- und Kriegssituation alleine gelassen. Die Bearbeitung der teilweise verstörenden Erfahrungen in den letzten Monaten erfolgt nicht systematisch und wird so oft dem Zufall überlassen. Auch wenn damit zu rechnen ist, dass einem Teil der Kinder die Bewältigung allein gelingt, würden wir nach den Sommerferien (insbesondere für Klassen, in denen sich in der Klassenauswertung erhöhte Zukunftsängste zeigen) dringend eine systematische Bearbeitung der Situation empfehlen. Eine Aufbereitung kann dabei durch niederschwellige Angebote (wie Gesprächskreise über Sorgen, kindgerechte Unterrichtsreihen über die Zukunft mit Corona/Krieg, aber auch durch eine Vermittlung von Copingstrategien) erfolgen.

  • Fehlende Verhaltensfertigkeiten aufbauen: Die Ergebnisse der SENSOR-Studie zeigen, dass sich in zum Teil erhebliche Entwicklungsrückstände in der sozial-kognitiven Informationsverarbeitung aufgebaut haben. Normalerweise werden solche sozial-kognitiven Fertigkeiten im täglichen Miteinander der Kinder bzw. in der alltäglichen sozialen Interaktion erlernt, erprobt und aufgebaut. Kinder lernen dabei auch viel von anderen Kindern der Klasse. In der Coronazeit waren diese Erfahrungen nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich. Sozialkontakte waren durch Homeschooling weder in der Schule noch in der Freizeit möglich. Sozialkontakte auf dem Pausenhof oder im Unterricht wurden stark reglementiert. Die nonverbale Kommunikation war durch das Tragen der Masken zum Teil erheblich eingeschränkt. Diese Erfahrungen müssen nun nachgeholt werden. Dies geschieht zum Teil ganz von alleine durch alltägliche soziale Interaktionen in Schule, Unterricht und Freizeit. Zum Teil wurden aber auch falsche Verhaltensmuster erlernt, denen aktiv entgegengewirkt werden muss. Wir empfehlen insbesondere Klassen mit verstärkten Problemen in Bereichen der sozial-kognitiven Informationsverarbeitung hier gezielte Trainings und Übungen (im Unterricht oder im Ganztag) zu implementieren. Hier könnte zeitweise auch ein verstärkter Arbeitsschwerpunkt von sonderpädagogischen Fachkräften liegen.
  • Elternbelastung und kindliches Problemverhalten: Die Datenauswertung zeigte einen Zusammenhang zwischen coronabezogener Elternbelastung und auffälligen Verhalten im Elternhaus und in der Schule, wobei insbesondere der Zusammenhang mit den Verhaltensproblemen zu Hause auffällig war. Ursache und Wirkung sind hier schwer zu trennen. Wir interpretieren den Befund so, dass sich in zahlreichen Elternhäusern (z.B. auch durch Stress oder mangelnde Erziehungskompetenzen) erhebliche Konflikte aufgebaut haben, die nach wie vor Bestand haben. Inwieweit sich diese Konflikte auch im Unterricht auswirken, ist von vielen Faktoren abhängig (z.B. mit dem Klassenklima, dem Classroom Management der Lehrkraft, Einfluss von Peers). Generell könnten viele Familien jedoch von einem Angebot an Trainings zur Wiederherstellung einer guten und positiven Beziehung zum Kind profitieren (z.B. Starke Eltern – starke Kinder oder Triple-P). Auch wenn viele Eltern solche Angebote nicht wahrnehmen, könnte ein Teil von solchen Trainings profitieren. Anbieter solcher Trainings sind der Kinderschutzbund,  Jugendamt bzw. Schulpsychologischer Dienst zu erfahren.
  • Gruppendynamik: Die Ergebnisse zeigen, dass sich Probleme in den Klassen unterschiedlich bündeln. Generell weisen die Ergebnisse darauf hin, dass sich Kindermit Problemverhalten gegenseitig „anstecken“. Auf diesen Effekt weisen auch (unabhängig von Corona) zahlreiche Studien hin. So wird sich ein Kind in einer vergleichsweise aggressiven Klasse tendenziell eher aggressiver entwickeln als in einer vergleichsweise prosozialen Klasse.  Die SENSOR-Ergebnisse zeigen auch, dass ein gutes Klassenklima mit einem geringeren Ausmaß an externalisierenden und internalisierenden Problemen einhergeht. Für Klassen, für die sich in der Klassenauswertung ein schwaches Klassenklima zeigte, dürften somit alle Maßnahmen zur Verbesserung des Klasseklimas wichtige Elemente zur Bearbeitung der Pandemie sein.
  • Emotional-soziale Förderung vor curricularer Förderung: Aktuell entsteht in der gesellschaftlichen Debatte eine Tendenz zur schnellen Schließung von curricularen Lücken und inhaltlichen Rückständen der Kinder. Der Fokus liegt dabei auf inhaltlichen Rückständen. Lehrkräfte fühlen sich zunehmend durch die Herausforderung belastet, die curricularen Lücken in kürzester Zeit bei einem hohen Niveau an Problemverhalten in den Klassen zu schließen. Hierdurch entsteht zunehmender Stress, der sich nicht auf die Lehrkräfte auswirkt, sondern die emotional-soziale Situation der Kinder ebenfalls weiter verschärfen könnte. Wir empfehlen eindringlich, den Schwerpunkt der Arbeit nach den Sommerferien auf die emotional-soziale Situation der Kinder zu legen und sich erst danach inhaltlichen Lücken zu widmen. Insbesondere Kinder mit starken Zukunftssorgen, Ängsten und erhöhter Aggressivität werden sich unserer Einschätzung nach nicht auf die inhaltliche Förderung einlassen (können), wenn sie nicht gleichzeitig auch das Gefühl haben, das man ihre emotional-soziale Situation ernst nimmt und Ihnen in diesem Bereich die notwendige Unterstützung anbietet.